Seit fünf Jahren studiere ich nun Medizin. Meine bisherigen praktischen Erfahrungen habe ich in ungarischen und deutschen Krankenhäusern gesammelt, in Gesundheitssystemen, die im internationalen Vergleich einem hohen Standard entsprechen. CT und MRT Geräte gehören bei uns in Europa inzwischen zur Grundausstattung. Effizienz und Wirtschaftlichkeit werden großgeschrieben. Die Krankenversicherung ist Pflicht. Doch wie wird die medizinische Grundversorgung in Ländern gewährleistet, die sich diese, unsere Norm nicht leisten können? Auf der Suche nach einem Praktikumsort, an dem Ressourcen beschränkt sind, Ärzte nur mit einfachen, grundlegenden Mitteln auskommen müssen und der Stellenwert des Zuhörens und Mitfühlens eines Arztes noch ein höherer ist als seine Effizienz, bin ich auf das Projekt der Tribal Health Initiative in Sittilingi, Indien, gestoßen.
Sittilingi ist eines von 21 kleinen Ortschaften des Sittilingi Tals im nördlichen Binnenland Tamil Nadus in Mitten der Kalrayan- und Sitheri Bergketten. Mehr als 200 Jahre lang war das Tal von der Zivilisation abgeschnitten, bis die indische Regierung Anfang der 90er Jahre den Bau einer ersten Straße durch das Tal in Auftrag gab. Medizinische Versorgung als solches existierte bis zu diesem Zeitpunkt nicht, zum einen weil es keine Ärzte in der Gegend gab und zum anderen, weil sich der Großteil der von der Landwirtschaft lebenden Bevölkerung medizinische Untersuchungen, Eingriffe und Medikamente nicht leisten konnte. Dies sollte sich ändern, als 1992 zwei junge Ärzte, Dr. Regi George und Dr. Lalitha Regi, die erste Arztpraxis des Tals eröffneten. Was zu Beginn aus einer Hütte mit vier Mitarbeitern bestand, hat sich in den letzten zwanzig Jahren zu einer kleinen Poliklinik entwickelt. Durch Spenden finanziert, kann das Krankenhaus heute eine Station mit 42 Betten betreuen, einen Geburtstrakt Tag und Nacht mit Personal besetzten, an vier Tagen pro Woche Sprechstunden und an zwei Tagen Operationen durchführen. Einheimische Frauen werden in der Klinik zu Krankenschwestern und Gesundheitshelfern ausgebildet und unterstützen die Ärzte in ihrer Arbeit im Labor, auf Station und im OP, in Hausbesuchen und in der Aufklärungsarbeit in den Bereichen der Familienplanung und Hygiene. Seit zehn Jahren steht den Gründerärzten der THI (Tribal Health Initiative) des Weiteren Dr. Ravikumar Manoharan zur Seite, der mit seiner Frau Prema Ravikumar inzwischen die Leitung der ärztlichen und pflegerischen Arbeit übernommen hat. Verstärkung bekommt das kleine Ärzteteam außerdem jedes Jahr von mehreren frisch gebackenen Assistenzärzten, die sich nach ihrem Medizinstudium dazu entschließen, für ein bis zwei Jahre in Sittilingi zu arbeiten. Deren Hilfe ist vor allem deshalb wichtig, weil sich Dr. Regi George und Dr. Lalitha Regi seit einigen Jahren nicht mehr nur auf die medizinischen Aspekte der Gesundheitsförderung beschränken, sondern inzwischen Initiativen gegründet haben, die der einheimischen Bevölkerung neue und vor allem ertragreiche Einkommensquellen bieten sollen. Dazu zählt zum Beispiel die Sittilingi Organic Famers Association, in der die einheimischen Landwirte lernen, biologisch anzubauen, um Kosten für teure chemische Pestizide einzusparen, um ihr Getreide auf einem Markt anbieten zu können, der von den Großbauern unabhängig ist, und um gleichzeitig die Gesundheit der einheimischen Konsumenten zu fördern. Ein weiteres Projekt, das zu einer gesunden Gesellschaft beitragen soll, ist die so genannte Tribal Craft Initiative. Hier stellen Frauen Kleidung gemäß traditionell überlieferten Techniken her, besticken sie und verkaufen sie auf Messen im ganzen Land. Somit tragen die Frauen zum häuslichen Einkommen bei, werden ermutigt, auf ihre Tradition und Kultur stolz zu sein und nehmen eine neue Rolle in der Gesellschaft ein. Nicht zuletzt beinhaltet das THI Projekt auch eine Bildungsinitiative, Thulir, die es einheimischen Kindern ermöglicht, ihre Bildungslücken zu füllen, die durch das schlecht organisierte Bildungssystem der Regierung leider zur Normalität geworden sind. Seit kurzem haben Grundschüler dort auch die Möglichkeit, ihre gesamte Schulbildung unabhängig von der Regierung zu erlangen.
Womöglich ist es schon nach dem Lesen dieses ersten Abschnittes offensichtlich, dass Sittilingi ein ganz besonderer Ort ist, mit ganz besonderen Menschen. Und ich kann nur sagen, dass meine Erfahrungen dort ebenfalls ganz besondere waren.
Bevor ich meine Reise nach Indien antrat, war ich überraschend nervös. Ich hatte wenig über Land und Leute gelesen, wenig geplant und mich auch auch kaum mit meinem Praktikum auseinandergesetzt. Und so bin ich Ende Dezember mit einem etwas mulmigen Gefühl im Bauch in den Flieger gestiegen. Meine Anreise war geprägt von Schlafmangel, Nervosität und einem Gefühl der Überwältigung beim Verarbeiten der ersten Eindrücke dieses facettenreichen Landes. Doch als ich nach gut 40 Stunden Reise um 6 Uhr morgens vom Zug in die schwüle, dicke Morgenluft in Valappadi stieg, ein Fahrer der THI und Dr. Lalitha Regi mich auf einem staubigen, dunklen Schotterplatz, dem so genannten Busbahnhof, zu meinem ersten Chai einluden, da waren die Anstrengungen der letzten beiden Tage schon wie verflogen. Denn die unbeschreibliche Gastfreundschaft, die sich schon in den ersten Minuten meines Aufenthalts in Sittilingi abzeichnete, sollte letztendlich die Gesamtheit meines Praktikums prägen. Schon zwei Stunden nach meiner Ankunft wurde ich bei der morgendlichen Meditation den Mitarbeitern vorgestellt, anschließend gab mir Dr. Ravi die Tour über den Campus, erklärte mir den Tagesablauf und eine knappe halbe Stunde später stand ich in Flipflops und OP-Kleidung neben den beiden Assistenzärzten, Sharan und Sangeetha, am OP-Tisch und starrte in die offene Bauchhöhle einer jungen Frau. Meine erste weibliche Sterilisation. Und schon war ich Teil der THI Gemeinschaft.
In den kommenden Wochen konnte ich im OP vieles sehen: Hämorrhoiden Entfernungen, Abszess Drainagen, Amputationen, gynäkologische Eingriffe, eine Operation am Darm (Gastrojejunostomi), Kaiserschnitte. Das Spektrum war ein breites. Einige Male durfte ich assistieren und hätte ich etwas mehr Zeit in Sittilingi verbracht, hätte man mir den einen oder anderen Eingriff gerne beigebracht. Neben den Stunden im OP, habe ich die Ärzte in ihren Sprechstunden begleitet. Dort hat man mir stets die Beschwerden der Patienten erklärt, hat mich Patienten untersuchen und mich die Diagnosen stellen lassen. Hierbei war es nicht von Bedeutung, ob ich die beiden Assistenzärzte, Dr. Ravi, Dr. Lalitha oder Dr. Regi begleitete. Jeder einzelne von ihnen war gleich bemüht mich in ihre Arbeit mit einzubinden. Ich wurde gerufen, wenn es etwas Interessantes in der Notaufnahme zu sehen gab, mir wurden Platzwunden zum Nähen überlassen und man hat mich animiert, Fragen zu stellen, wenn mir Dinge unklar waren. So konnte ich zum Beispiel viel über Krankheiten lernen, die in weiten Teilen Europas nicht allgemein verbreitet sind: Tuberkulose, Lepra, Dengue Fieber, Malaria sind ein paar dieser Beispiele.
Generell fiel mir in den Sprechstunden auf, dass sich sowohl der Arbeitsalltag, als auch die diagnostische Herangehensweise der indischen Mediziner nicht sonderlich von der eines deutschen Hausarztes unterscheiden. Es wird so lange gearbeitet, bis keine Patienten mehr zu versorgen sind und eine ausführliche Anamnese und körperliche Untersuchung, Ultraschall, Blutwerte, EKG und Röntgenaufnahmen sind ausreichend, um den Großteil der Diagnosen zu stellen und die entsprechende Behandlung einzuleiten. Nur in Fällen, in denen es absolut notwendig ist, wird ein Patient an das nächst größere Krankenhaus überwiesen, das sich drei Stunden Busfahrt von Sittilingi entfernt befindet und das die entsprechenden Mittel und Geräte zur Verfügung hat, um komplizierte Eingriffe zu tätigen.
Was mir von der Arbeit in Sittilingi als ganz besonders positiv in Erinnerung bleiben wird, ist, dass sowohl der Chirurg, als auch der Anästhesist oder die Krankenschwester, den Patienten, dessen Lebensumstände und Krankengeschichte, genauso gut kennt, wie der Allgemeinarzt selbst. Das liegt zum einen natürlich daran, dass der Allgemeinarzt eben auch gleichzeitig Operateur oder Anästhesist ist, aber zum andren auch an der exzellenten Kommunikation unter den Ärzten und dem restlichen Personal. Die Stimmung in der THI ist kollegial, die Hierarchie ist flach und so kam es zum Beispiel auch, dass ich nach Ende des Arbeitstages die Abende mit den beiden Assistenzärzten, Sharan und Sangeetha, Dr. Ravi und seiner Frau Prema habe ausklingen lassen können. Bei Tee oder Kaffee saß man zusammen und hat versucht Lösungen für die Probleme der Welt zu finden, hat sich die Zeit mit Carrom (Fingerbilliard) oder Skat vertrieben, bevor man schließlich zu später Stunde zusammen gekocht und zu Abend gegessen hat. Aber nicht nur der Kontakt zu den Ärzten war eng, auch die restlichen Mitarbeiter waren einfach unglaublich gastfreundlich. Als gegen Ende meines Praktikums das tamilische Erntedankfest (Pongal) gefeiert wurde, habe ich für mehrere Tage fast ausschließlich bei unterschiedlichen Familien zu Mittag und zu Abend gegessen, bei Familien, die mir alle stolz ihr Zuhause, ihre Kultur und ihre Kochkünste zeigen wollten. Und so verging die Zeit wie im Flug. Am Ende viel es mir schwer zu gehen.
In den drei Wochen, in denen ich in Sittilingi zuhause sein durfte, habe ich einen erstaunlich intensiven Einblick in die Kultur Tamil Nadus erhalten und auch der medizinische Aspekt meiner Zeit in der Tribal Health Initiative war spannend und bereichernd. Doch am wertvollsten werden für mich auf lange Sicht die vielen neu geknüpften sozialen Kontakte sein, die mir unglaublich schöne Erinnerungen an mein Praktikum in Hinterland Tamil Nadus geschenkt haben. Für mich wird Sittilingi immer ein besonderer Ort sein. Ein Ort, an dem Gesundheit als ganzheitliches Konzept verstanden und umgesetzt wird. Ein Ort, an dem das Engagement ganz besonderer Menschen durch Hilfe zur Selbsthilfe die Lebensqualität einer gesamten Bevölkerungsgruppe verbessert.
Webseite der Tribal Health Initiative: http://www.tribalhealth.org
https://www.facebook.com/tribalhealthinitiative/
Webseite Freunde von Sittilingi e.V.: http://www.sittilingi.de
Bewerbung
min. 6 Monate, besser 1 Jahr im Voraus unter http://www.tribalhealth.org
Sehr unkompliziert!
Kosten für die Famulatur betragen 25$/Tag, dafür wird ein Zimmer gestellt und 3x/Tag Essen serviert. (Während man in Sittilingi ist, hat man so gut wie keine Ausgaben.)